Ausweg aus der Organhaftung: Was tun bei internationalen Normenkonflikten?
10. October 2025

Zusammenfassung
- These: Business Judgment Rule statt strenge Legalitätspflicht. Bei echten Normenkonflikten können Organe unternehmerisch entscheiden
- Umfassende Dokumentation ist entscheidend für Haftungsfreiheit
- Relevant für Geschäftsleiter international tätiger Unternehmen mit widersprüchlichen rechtlichen Vorgaben
Sören Rettig und Christoffer Gruppe, beide von der D&O-Versicherungsgemeinschaft VOV, untersuchen in ihrem Beitrag "Die Organhaftung im Fall des internationalen Normenkonflikts" (Paywall) in der NZG 2025, 1317 die organhaftungsrechtlichen Konsequenzen, wenn sich Geschäftsleiter internationaler Unternehmen mit widersprüchlichen rechtlichen Vorgaben aus verschiedenen Jurisdiktionen konfrontiert sehen. In diesem Artikel zeichnen wir die Kernaussagen des Beitrags nach und ordnen sie für die Praxis der Organhaftung ein.
Problemstellung
International tätige Unternehmen stehen vor der Herausforderung, sich widersprechende rechtliche Vorgaben aus verschiedenen Jurisdiktionen zu befolgen, wobei die Erfüllung der einen Pflicht zwangsläufig den Bruch der anderen bedeutet.
Zentrale These der Autoren
Bei echten internationalen Normenkonflikten greife die strenge Legalitätspflicht nicht. Stattdessen können Organe eine unternehmerische Entscheidung treffen und sich auf die Business Judgment Rule berufen.
Begründung
Rettig und Gruppe argumentieren, dass die Legalitätspflicht eine eindeutige Handlungsvorgabe voraussetzt. Bei sich widersprechenden Rechtsbefehlen fehle diese Eindeutigkeit jedoch. Mangels eindeutiger Entscheidungsbindung liege daher eine unternehmerische Entscheidungssituation vor. Das Organ handele pflichtgemäß, wenn es auf angemessener Informationsgrundlage zum Wohl der Gesellschaft entscheide. Für eine Haftungsfreiheit bedarf es also der Beachtung (und Dokumentation!) der Voraussetzungen der Business-Judgment-Rule:
- Angemessene Information: Umfassende Analyse rechtlicher, wirtschaftlicher und sonstiger Folgen beider Optionen (ex ante)
- Gesellschaftswohl: Entscheidung muss vertretbar sein und darf nicht schlechthin unverantwortbar sein
- Keine Interessenkonflikte: Persönliche Sanktionsrisiken dürfen die Entscheidung nicht beeinflussen
Schadensersatz
Die Autoren vertreten zudem, dass auch bei Pflichtverletzungen die allgemeinen Grundsätze der Vorteilsanrechnung gelten – Vorteile aus der Pflichtverletzung mindern demnach den Schaden.
Einordnung für die Praxis
Bedeutung: Der Beitrag von Rettig und Gruppe bietet Organmitgliedern international tätiger Unternehmen einen wichtigen haftungsrechtlichen Anhaltspunkt für einen "Ausweg" aus scheinbar unlösbaren Compliance-Dilemmata, zu dem es bisher an (höchstrichterlicher) Rechtsprechung fehlt. Die Übertragung der Business Judgment Rule auf Normenkonflikte ist dogmatisch nachvollziehbar und praxisgerecht.
Handlungsempfehlungen:
- Konfliktidentifikation: Zunächst prüfen, ob tatsächlich ein echter, unauflösbarer Normenkonflikt vorliegt (keine kollisionsrechtliche Lösung)
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Dokumentation ist entscheidend:
- Umfassende Analyse der rechtlichen Konsequenzen beider Optionen (Bußgelder, Schadensersatz, Ausschlüsse)
- Bewertung wirtschaftlicher Folgen (unmittelbar/mittelbar, kurz-/langfristig)
- Berücksichtigung von Reputationseffekten, Geschäftsbeziehungen, Marktzugängen
- Einholung qualifizierter externer Beratung bei fehlender interner Expertise und Beauftragung von schriftlichen rechtlichen Stellungnahmen, die der Plausibilitätsprüfung zugänglich sind
- Interessenkonflikte vermeiden: Bei drohenden persönlichen Sanktionen Offenlegung und ggf. Enthaltung
- Ex-ante-Perspektive: Nur die zum Entscheidungszeitpunkt erkennbaren Umstände sind maßgeblich, nicht der später eingetretene Erfolg